Resonanzreiche Lernwerkzeuge
Vor gut zwei Jahren (im Frühjahr 2023) habe ich über meine (damals sehr große, weil für mich sehr neue) Faszination gebloggt, mithilfe von KI-Sprachmodellen Mini-Anwendungen für die Lehre entwickeln zu können. Wenn ich diesen Blogbeitrag heute lese, muss ich innerlich schmunzeln, weil mir meine damaligen Beschreibungen doch sehr banal erscheinen. Denn es ist ja noch so viel mehr und anderes möglich! Über meinen bisherigen Lernweg in diesem Bereich und meine daraus gewonnenen pädagogischen Schlussfolgerungen möchte ich im folgenden Blogbeitrag berichten.
Mein Lernweg
Kurz gefasst erfolgte mein Lernen in diesem Bereich …
- … technisch von einfachen, statischen Anwendungen hin zu „intelligenten“ Apps, die ich (aus meiner Sicht passender) als resonanzreiche Apps bezeichne.
- … pädagogisch von einer Perspektive des Lehrens hin zu einer Perspektive des Lernens.
Wie so oft gilt auch hier: Das Neue machte das Alte nicht obsolet. Stattdessen erweiterten sich die Möglichkeiten.
1. Faszination über die Möglichkeiten von „Helfer-Tools“
Der erste Schritt meines Lernwegs war meine oben bereits skizzierte Faszination, wie viel gezielter und einfacher ich in meiner pädagogischen Praxis mit KI-Unterstützung Anwendungen entwickeln konnte, die mich früher sehr viel Mühe und Zeit gekostet hätten oder für die ich auf Online-Angebote von anderen angewiesen gewesen wäre.
Zum Beispiel habe ich eine Anwendung gepromptet, die mehrere Lernende zufällig in Gruppen einteilt. Ein anderes Beispiel war ein Kreativitätsbooster: Hier konnten sich Lernende immer wieder neue, zuvor eingegebene Kreativitätsimpulse anzeigen und so in einem Brainstorming unterstützen lassen. Solche Tools gibt es zuhauf im Internet. Neu war für mich nun, dass ich sie mit KI-Unterstützung selbst gestalten konnte – und zwar genau mit dem Design und den Bezeichnungen, die ich haben wollte.
Mein Vorgehen bei diesen und vielen anderen Anwendungen war und ist so, dass ich zunächst mein Anliegen genau beschreibe und mir darauf aufbauend dann von einem Sprachmodell HTML-Code mit integriertem JavaScript generieren lasse. Den Output teste ich dann und korrigiere ihn, wo nötig. Anschließend stelle ich ihn online und nutze ihn in Lernangeboten.
Solch eine Entwicklung hat sich im Laufe der letzten beiden Jahre für mich immer weiter verbessert. Denn einerseits weiß ich inzwischen besser, wo mögliche Stolperfallen liegen, also worauf ich beim Prompten achten muss. Andererseits werden die KI-Sprachmodelle weiterentwickelt und können solche Coding-Schnipsel immer besser generieren.
2. Vom Helfer-Tool zu Austausch und Reflexion
Der zweite Schritt meines Lernwegs war, dass ich nicht mehr ausschließlich Helfer-Tools gestalte, sondern mehr auf Anwendungen ziele, die Gruppenprozesse unterstützen oder als Reflexionsinstrument dienen.
In diesem Sinne habe ich zum Beispiel das Tool „Brainstormrank“ entwickelt: Alle Beteiligten können hier Ideen eingeben und diese anschließend im Austausch bewerten. Am Ende bekommt man ein Ranking angezeigt.
Der Hintergrund dieser und anderen, ähnlichen Anwendungen ist, dass ich mich hier pädagogisch an ‚gutem Rahmenbau‘ orientiere und hier vor allem reflektiere, was in einer zunehmend KI-geprägten Welt wichtiger wird. Soziales Lernen, kollaborative Reflexion und Austausch in Gruppen erscheint mir besonders relevant. Vor diesem Hintergrund finde ich es sinnvoll, KI-Technologie dazu zu nutzen, Anwendungen zu entwickeln, die Menschen in Austausch miteinander bringen.
3. Vom Lehrwerkzeug zu Anwendungen für den eigenen Gebrauch
Der dritte Schritt meines Lernwegs erfolgte, weil ich zunehmend feststellte, wie sehr wir in der pädagogischen KI-Debatte die bestehende Bildungskultur zementieren, anstatt sie neu zu denken. Der Schlüssel, um das zu ändern, ist für mich vor allem, vom Lernen aus zu denken statt von der Lehre.
Bei meinen bisherigen Erkundungen musste ich mir eingestehen, dass ich ganz klar lehrseitig dachte. Zwar ist Lernraumgestaltung auf dem Weg vom Fokus auf Lehre hin zum Lernen bereits deutlich weiter als klassische Instruktion. Viel sinnvoller wäre es jedoch, Lernende dazu zu befähigen, selbst Anwendungen zu erstellen und darüber zu reflektieren. Um diesen Weg pädagogisch umzusetzen, finde ich es hilfreich, zunächst selbst zu erkunden, wie solch eine Entwicklung von Lernwerkzeugen für mein eigenes Lernen funktioniert.
Der erste Versuch hierfür war, dass ich wieder sehr einfache Helfer-Tools gestaltete – nun allerdings nicht mehr für Lernende, sondern für mich selbst. Das mache ich bis heute immer wieder, wenn ich einen Bedarf entdecke. Erst gestern habe ich zum Beispiel einen Mehrwertsteuerrechner mit Pauschalen-Integration gepromptet, um mir das vermaledeite Rechnungsschreiben in meiner Freiberuflichkeit zu vereinfachen. ;-)
Bei diesem und vielen weiteren Beispielen stelle ich immer wieder fest: Sie sind dann für mich hilfreich, wenn sie von meinem eigenen Anliegen ausgehen.
4. Auf dem Weg zum Lernwerkzeug
Eigene Anwendungen für Herausforderungen in meiner Arbeit zu entwickeln, empfinde ich als sehr nützlich. Zugleich ist mir klar, dass diese Tools noch keine Lernwerkzeuge sind. Denn sie helfen mir zwar sehr gut bei der Bewältigung von Herausforderungen, aber ich verwende sie nicht zum Lernen im Sinne von „klüger werden“ oder Selbstentwicklung.
Um das zu ändern, begann ich damit, typische Lernstrategien, die sich für mich als hilfreich erwiesen hatten, in Anwendungen zu übersetzen, die ich dann zum Lernen nutzen wollte. Zum Beispiel kann ich im Sinne von Kreativitätsentwicklung besonders gut neue Ideen entwickeln, wenn ich sie in einem engen Zeitraum aufschreiben muss.
Vor diesem Hintergrund promptete ich mir als Lernwerkzeug eine simple Anwendung, in die ich eine Herausforderung eingeben kann. Dann läuft ein Timer herunter und ich bin herausgefordert, in dieser Zeit so viele Ideen zu notieren, wie mir einfallen. Anschließend zeigt das Tool alle Ideen an, aus denen ich die relevantesten auswählen und zur Weiterarbeit für mich kopieren kann.
Dieses Lernwerkzeug zum Brainstorming ist nur ein Beispiel für eine Vielzahl von Versuchen, die ich in diese Richtung gestartet habe. Ich habe zum Beispiel auch mit einem selbst geprompteten Vokabel-Abfrage-Tool experimentiert, weil ich testen wollte, wie auch solch ein klassisches Faktenlernen mit einem eigenen Lernwerkzeug angegangen werden kann.
Eine Zeit lang machten mir solche Tools viel Freude. Allerdings erkannte ich auch, dass es oft eher Spielerei bzw. Prokrastination als verändertes oder verbessertes Lernen war: Für ein Brainstorming hätte ich mir genauso gut eine Uhr stellen und meine Ideen auf Karten notieren können. Für das Vokabellernen hätte es vielleicht auch einfach ein Karteikasten getan.
Dennoch fand und finde ich es aus einer Perspektive des Lernens hier spannend, dass ich mir eben erst eine Lernstrategie überlege, diese dann in eine Anwendung übertrage – und die Anwendung aufbauend auf einer Reflexion meines Lernens dann immer wieder verändern kann.
5. Lernwerkzeuge mit KI-Unterstützung
Bei der Entwicklung nützlicher Helfer-Tools für mich selbst und andere experimentierte ich mit unterschiedlichen Sprachmodellen. So kam ich zum fünften Schritt meines Lernwegs, der eher zufällig war.
Bei der Entwicklung meiner eigenen Anwendungen hatte ich schon sehr bald die Canvas-Funktion von KI-Sprachmodellen entdeckt. Diese Funktion ermöglicht es, dass ein Inhalt nicht im Chat, sondern in der rechten Seite in einem extra Fenster entwickelt wird. Der große Vorteil dieser Funktion ist erstens, dass ich den klassischen Chat verlasse, in dem ein Code bei Fehlern immer wieder neu generiert wird. Stattdessen kann ich den Output direkt korrigieren und anpassen. Zweitens kann ich in eine Vorschau wechseln und die Anwendung direkt nutzen. Das macht die Entwicklung und Nutzung von Anwendungen für den eigenen Gebrauch und zum eigenen Lernen also deutlich einfacher.
Zufällig stieß ich dann irgendwann beim Ausprobieren beim KI-Sprachmodell Gemini von Google auf einen Sternen-Button neben einer entwickelten Anwendung auf dem dortigen Canvas.
Sternen-Button in Gemini
Ich probierte diesen Button aus und verstand, dass Gemini daraufhin eine direkte KI-Integration in meine gepromptete App vorschlug und einbaute. Ich wusste zwar, dass so etwas grundsätzlich möglich ist – schließlich gibt es jede Menge Apps mit KI-Integration im Internet – aber neu war mir, dass es sich so simpel auch selbst gestalten lässt.
Anstatt mir nur Vorschläge zu KI-Unterstützung in einer App machen zu lassen, begann ich, meine bisherigen Anwendungen direkt zu überarbeiten. Bei der zeitlich getakteten Brainstorming-App ergänzte ich zum Beispiel einen ‚KI-Wettstreit‘. Ich konnte so Idee entwickeln und gleichzeitig beobachten, welche Ideen ein KI-Sprachmodell generierte. Das funktionierte ziemlich gut!
Eine weitere Idee war eine ganz neue Anwendung, um mich in meinem Denken herauszufordern. Hierzu skizzierte ich dem KI-Sprachmodell zunächst einige der wichtigsten ‚Gebote‘ des systemischen Denkens, mit denen ich mich zu der Zeit beschäftigte – und ließ darauf basierend eine Anwendung entwickeln, in die ich eine Herausforderung eingeben kann und die mir anschließend Denkimpulse im Sinne dieser ‚Gebote‘ anzeigt.
Hier kam dann auch der ‚Sternen‘-Button zum ersten Mal zum Einsatz. Ich hatte bereits KI-Integration in dem Sinne in die Anwendung gepromptet, dass basierend auf meinen systemischen Geboten immer ein passender Denkimpuls generiert werden soll. Das konnte ja nicht statisch vorab eingegeben werden. Gemini schlug mir nun noch zusätzlich vor, eine Metapher anzeigen zu lassen oder Anregungen für einen nächsten Schritt.
Mein Lernwerkzeug um weitere KI-Funktionen erweitert
Bei diesen und weiteren Anwendungen mit KI-Unterstützung promptete ich die Anwendungen immer in der Form, dass ich innerhalb der Anwendung nicht einen üblichen KI-Chatbot integrierte, der mit mir dann in einen Dialog trat. Denn dann hätte ich ja auch direkt in einem normalen Chat bleiben können. Stattdessen war meine Angabe zum Beispiel bei der App für systemische Denkimpulse, dass auf Klick von mir einfach jeweils nur ein sehr prägnanter Denkimpuls zu meiner zuvor eingegeben Herausforderung angezeigt werden sollte.
Vor diesem Hintergrund bezeichne ich die entstehenden Lernwerkzeuge mit KI-Integration für mich auch nicht als ‚intelligente‘ Apps, sondern eher als ‚resonanzreiche‘ Apps: Es ist kein direktes ‚Gegenüber‘, das mit mir hier in eine Kommunikation tritt, sondern ich kann mich dank KI-Unterstützung in Resonanz mit all den Überlegungen begeben, die Menschen in den letzten Jahrzehnten ins Internet geschrieben haben. Ich kann und muss dabei bei jedem Impuls für mich reflektieren, was ich dabei für mich sinnvoll finde und was nicht.
Pädagogische Reflexion
Aus einer emanzipatorischen und befähigenden Perspektive finde ich die (oben insbesondere bei Punkt 4 und 5) dargestellte Möglichkeit, Lernwerkzeuge zu entwickeln, zu nutzen und zu reflektieren, aus mehreren Gründen pädagogisch sehr spannend:
- Lernende starten die Entwicklung solch einer Anwendung jeweils von ihrem Lernen aus. Sie legen in einem ersten Schritt selbst fest, was und wie sie lernen wollen. Die Berücksichtigung und bewusste, eigene Gestaltung von Form und Struktur ihrer Lernprozesse unterscheidet sich deutlich davon, sich einfach nur mit einer Frage an ein KI-Sprachmodell zu wenden.
- Die Gestaltung von Lernwerkzeugen bringt uns weg von einer vermenschlichten Perspektive auf KI-Anwendungen. Lernende beginnen die Maschine zu kontrollieren, statt sich von ihr steuern zu lassen. Sie erleben sie mehr als Resonanz- und weniger als Antwortmaschine.
- Da Anwendungen nicht nur entwickelt und genutzt, sondern auch angepasst und verändert werden können, sind Lernende kontinuierlich zur Reflexion ihres Lernens herausgefordert. In diesem Sinne kann man solche selbst entwickelten Lernwerkzeugen als die Modellierung von Lernstrategien verstehen.
Zusätzlich können Lernwerkzeuge in diesem Sinne immer auch kollaborativ gedacht werden. Lernende können ihre Anwendungen teilen und sich mit anderen dazu austauschen. So lässt sich Lernen gemeinsam besser machen.
Lernwerkzeuge selbst zu entwickeln, zu nutzen und zu reflektieren birgt also ein großes pädagogisches Potential. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es gelingen kann, Lernende in Lernangeboten dazu ermächtigen. Einen ersten Versuch habe ich hierzu im Rahmen der zurzeit laufenden EPALE-Akademie zum Thema „Twin Transition“ unternommen. Bereits in den ersten drei Lerneinheiten konnten die Teilnehmenden mit verschiedenen KI-Tools experimentieren, um das Thema füpr sich zu erkunden. In der vierten und letzten Lerneinheit ging es darum, aufbauend auf zuvor entwickelten Themenfeldern konkrete Ideen und erste Schritte zur Umsetzung zu entwickeln. Die Leitfrage war: „Was kann ich praktisch tun, um Twin Transition in meiner pädagogischen Praxis umzusetzen?“
Die Befähigung zur eigenen Entwicklung, Nutzung und Reflexion passender Lernwerkzeuge für diese Herausforderung habe ich in drei Schritten versucht:
- Im ersten Schritt habe ich eine Anwendung gepromptet und veröffentlicht, die ähnlich wie meine oben beschriebene Brainstorming- und Ideenentwicklungs-App aufgebaut war. Dann habe ich Lernende eingeladen, diese zu nutzen und somit erste Ideen zu entwickeln.
- Im zweiten Schritt habe ich transparent gemacht, dass diese App KI-generiert war, und eingeladen, das eigene Lernen mit der App zu reflektieren und die App daraufhin für sich anzupassen.
- Im dritten Schritt habe ich die Möglichkeit zur KI-Integration erklärt und die Teilnehmenden zum Experimentieren damit eingeladen.
Du kannst dir die Lerneinheit hier ansehen. Ich erlebe diesen Weg im Rahmen der Akademie grundsätzlich als sinnvoll. Zugleich bin ich neugierig, welche Erfahrungen andere machen – und werde sicherlich noch viel dazu weiter erkunden.
Fazit
Das war meine Darstellung zur Nutzung von KI-Sprachmodellen zur Entwicklung von Anwendungen und Lernwerkzeugen. Ich will nicht unerwähnt lassen, dass diese Möglichkeiten bisher nur in einem stark monopolisierten, intransparenten Kontext so einfach und niederschwellig umsetzbar sind. Das ist alles andere als zufriedenstellend! Spannend finde ich jedoch, dass mit solchen Erkundungen zugleich durchschimmert, wie eine pädagogisch sinnvolle KI-Technologie aussehen könnte. Ich stelle mir hier eine lokal installierte Entwicklungsumgebung vor, an die mehrere offene und dezentral nutzbare sowie kleinere KI-Modelle und vor allem auch offene Datensätze flexibel angedockt werden können. Lernende könnten sich dann bewusst entscheiden, welche Inhalte sie für ihr jeweiliges Lernwerkzeug nutzen und wie sie damit lernen wollen.
Ich finde diese Perspektive – gerade aufgrund meiner eigenen Lernexperimente – einen sehr sinnvollen pädagogischen Nordstern für die weitere KI-Entwicklung. Als Bild für diesen Beitrag habe ich deshalb auch eine Aufnahme des letzten Chaos Communication Congress (CCC) gewählt. Vor allem in dieser Community von Menschen, die grundsätzlich immer einen gestaltenden und ermächtigenden Blick auf Technologie haben, kann ich mir vorstellen, Bündnispartner*innen für die Realisierung dieses Nordsterns zu finden.