ANA: Was waren die Gründe für diese Verhaftungen in Belgien und Frankreich? Hast du viel Zeit im Gefängnis verbracht?
Octavio Alberola: In Belgien wurden meine Partnerin Ariane und ich im Februar 1968 aufgrund einer Anzeige der franquistischen #Polizei verhaftet. Die Anklage lautete auf Besitz von zwei Pistolen und gefälschten Dokumenten, da sie die ursprüngliche Anschuldigung, die Entführung eines spanischen Diplomaten bei der EU geplant zu haben, nicht aufrechterhalten konnten. Ich wurde zu fünf Monaten Haft verurteilt, meine Partnerin zu zwei Monaten.
In Frankreich wurden wir im Mai 1974 verhaftet, nach der Freilassung des Direktors der Bilbao Bank in Paris, der entführt worden war, um die Hinrichtung des jungen katalanischen Anarchisten Salvador Puig Antich in Spanien anzugeprangern und die Hinrichtung zweier weiterer MIL-Militan (Iberische Befreiungsbewegung) zu verhindern. Sie verhafteten zehn unserer Genossen (Spanier und Franzosen) und beschuldigten mich, die Entführung organisiert zu haben (die Genossen, die sie durchgeführt hatten, konnten sie nie finden oder verhaften). Ich war derjenige, der am längsten inhaftiert war: neun Monate. Dann wurden wir zehn vorläufig freigelassen und mussten uns in Paris aufhalten. 1981, nach Francos Tod, gab es einen einwöchigen Strafprozess gegen uns, und wir wurden freigesprochen, weil die französische Polizei ihre Anschuldigungen nicht beweisen konnte.
ANA: Und du bist ohne Probleme nach Kuba eingereist? Hattest du keine Angst, ins Gefängnis zu kommen, da du wegen deiner Kritik an Fidel und dem Regime wahrscheinlich vom kubanischen Geheimdienst gesucht wurdest?
Octavio Alberola: Ich war bis Anfang der 1980er Jahre nicht mehr in Kuba... Aber ich war auf dem Weg nach #Peru und #Bolivien, um mich für die Wiederherstellung und Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses in #Lateinamerika zu engagieren, unterstützt vom Amsterdamer Institut für Geschichte, der #Feltrinelli-#Bibliothek in #Mailand, der Bibliothek für internationale zeitgenössische Dokumentation in# Nanterre (Paris) und der #CIDA in Spanien. Dann, 1989 und 1992, habe ich eine ikonografische Ausstellung über den Einfluss der Französischen Revolution in Lateinamerika und eine weitere über 500 Jahre Kampf für Menschenrechte in Lateinamerika vorbereitet, anlässlich des 200. Jahrestags der Französischen Revolution und des 500. Jahrestags der Entdeckung Amerikas. Bei diesen Reisen wurde ich von europäischen Hochschuleinrichtungen unterstützt. Das letzte Mal war Ende der 1990er Jahre anlässlich des Gipfeltreffens der iberoamerikanischen Staatschefs in Havanna. Ich war dort, um Kontakte zu #Dissidentengruppen zu knüpfen, damit ein #Europaabgeordneter an einer Demo von Frauen von Gefangenen teilnehmen konnte... Wir hatten keine Probleme, reinzukommen oder Kontakte zu knüpfen, weil das Regime damals keinen Skandal wollte... Aber die Frauen und mehrere Dissidenten waren in der Nacht zuvor vorläufig festgenommen worden, sodass die Demo nicht stattfinden konnte und der Europaabgeordnete sich darauf beschränkte, eine Pressekonferenz mit den auf der Insel anwesenden europäischen Journalisten abzuhalten. Am Flughafen wurde ich für ein paar Stunden von der Staatssicherheit festgehalten, die mir mitteilte, dass ich während meines dreitägigen Aufenthalts auf der Insel überwacht worden war... Sie sagten mir, dass sie über meine Vergangenheit Bescheid wüssten, als wir gemeinsam gegen Batista gekämpft hatten... und schließlich ließen sie mich das Flugzeug zurück nach Paris nehmen. Es war klar, dass sie keinen Skandal verursachen wollten, solange die iberoamerikanischen Staatschefs noch auf der Insel waren.
ANA: Gibt es derzeit Raum für libertäre Debatten und Aktionen in Kuba? Wie siehst du die libertäre Landschaft in diesem Land?
Octavio Alberola: Es gibt „Räume“, insofern als die Kubaner ihre Angst, sich zu äußern, verlieren und das Regime (wie am Ende der Franco-Diktatur) nicht mehr so offen wie früher unterdrücken kann.
Das passiert auch mit den „Damas en Blanco” und anderen Oppositionsgruppen... Ich sehe die libertäre Perspektive ziemlich optimistisch, weil die Genossinnen, mit denen wir in Kontakt stehen (Mitglieder des Critical Observatory), sehr fähig und sich der Chance für Anarchistinnen bewusst sind, den falschen #Castro-Sozialismus zu entlarven und das revolutionäre Potenzial des libertären Sozialismus zu zeigen.
ANA: Stimmt es, dass ihr in den 1960er Jahren zwei Attentate auf General Franco organisiert habt? Was ist passiert?
Octavio Alberola: Das ist eine sehr lange Geschichte, aber ich werde versuchen, sie so kurz wie möglich zu machen. 1961 wurde auf dem CNT-Kongress in Limoges, Frankreich, die spanische libertäre Bewegung (MLE), die seit 1945 in zwei Flügel gespalten war, wieder vereint. Auf diesem Kongress wurde in einer geschlossenen Sitzung beschlossen, eine konspirative Organisation für den Kampf gegen die Franco-Diktatur zu gründen. Diese Organisation hieß Defensa Interior (DI) und sollte aus sieben Aktivisten der CNT, der #FAI und der FIJL bestehen. Anfang 1962 ernannte die Verteidigungskommission der #MLE die sieben Mitglieder der DI, und ich wurde als Vertreter der #FIJL (Libertäre Jugend) ausgewählt. Aus diesem Grund verließ ich Mexiko und schloss mich heimlich der DI in Frankreich und Spanien an. Die DI beschloss, Aktionen gegen die Franco-Diktatur zu starten, um die brutale Repression der Franco-Anhänger anzuprangern und Solidarität mit den in Spanien inhaftierten Gefangenen zu zeigen. Es wurde auch beschlossen, den Diktator zu töten, und zu diesem Zweck wurde eine erste Aktion gegen Franco vorbereitet. Diese Aktion fand im Sommer 1962 in San Sebastián statt, war aber wegen technischer Probleme (Batterie des Empfängers) und Informationsproblemen (Franco verzögerte seine Ankunft) erfolglos. Die Aktion sorgte für großes Aufsehen, und die Presse bezeichnete sie als gescheiterten Anschlag auf Francos Leben. Die Polizei von Franco nahm viele Leute aus baskischen Unabhängigkeitskreisen fest, musste sie aber wieder freilassen, weil sie die libertären DI-Mitglieder hinter dem Anschlag nicht identifizieren konnte. Im Sommer 1963 wurde eine weitere Aktion gegen Franco in Madrid geplant, als er auf dem Weg vom #Prado-Palast zum #Oriente-Palast war, um die Ernennungsschreiben der neuen Botschafter in Madrid entgegenzunehmen. Allerdings führten Umstände, die bis heute nicht ganz geklärt sind, zur Verhaftung von zwei Genossen aus der Gruppe, die den Anschlag auf Franco vorbereitet hatte, und zum Verlust des gesamten Materials, das für diese Aktion bestimmt war. Das Franco-Regime reagierte brutal und verurteilte innerhalb von 17 Tagen diese beiden Genossen, Francisco Granado und Joaquín Delgado, zum Tode und richtete sie hin. Außerdem nahm es wahllos zahlreiche Libertäre in Spanien und sogar in Frankreich fest, wo die französischen Behörden auf Anweisung des Franco-Regimes fast hundert junge Libertäre und einige alte Militante in verschiedenen Städten verhafteten. Diese Repression führte zur Lähmung der DI, und von da an setzte nur noch die FIIJL die Aktionen gegen die Franco-Diktatur fort. Weitere Informationen findest du in dem Buch „El anarquismo español y la acción revolucionaria (1961-1974)” und in Dokumentarfilmen auf TVE und dem europäischen Sender ARTE über die Anschläge auf Franco.
ANA: Wechseln wir das Thema. Wie beurteilst du die Tatsache, dass die Finanzkrise der letzten Jahre keine größeren Proteste in Europa ausgelöst hat?
Octavio Alberola: Die jüngste Finanzkrise hat in Europa keine größeren Proteste ausgelöst, obwohl sie erhebliche Folgen für die Beschäftigung hat, und zwar aus dem einfachen Grund, dass die meisten europäischen Arbeitnehmer ein hohes Kaufkraftniveau erreicht hatten und das Wirtschaftssystem diese Kaufkraft und damit ihre Konsumfähigkeit nicht drastisch eingeschränkt hat.
Ich glaube nicht, dass sich diese Situation in naher Zukunft ändern wird, und deshalb denke ich, dass das Kräfteverhältnis zugunsten des Kapitalismus bestehen bleiben wird ... bis sich die andere Krise, die ökologische, verschärft und der Mehrheit der Arbeitnehmer bewusst wird, welche Gefahr die Fortsetzung des kapitalistischen Systems für ihr Überleben darstellt. Dieses Bewusstsein könnte die Entstehung einer selbstverwalteten globalen Bewegung fördern, um den Planeten und die Menschheit vor allen Gefahren zu retten, die von der kapitalistischen und autoritären Verwaltung der menschlichen Gesellschaften ausgehen.
ANA: Gibt es einen Ort, an dem du mehr anarchistische Hoffnung, einen lebendigeren und inspirierenderen #Anarchismus siehst? Wird er von den jüngsten Ereignissen in #Griechenland beeinflusst?
Octavio Alberola: Was ich derzeit am hoffnungsvollsten finde, ist der Konsens vieler #Libertärer und #Marxisten in ihrer Kritik am #Autoritarismus und ihrer Wertschätzung von #Autonomie und #Selbstverwaltung. Dies ist ein spontanes und globales Phänomen, das dank des Internets und durch Netzwerke der Solidarität, des Dialogs und der Reflexion miteinander verbunden ist.
Es ist ein entschlossen undogmatischer Anarchismus, der außerhalb streng anarchistischer Kreise seinen größten Vertreter im französischen Philosophen Michel #Onfray gefunden hat (dessen Bücher in mehr als 15 Sprachen übersetzt wurden und dessen Auflagen sich auf Hunderttausende belaufen). Was in Griechenland passiert, kommt mir nicht wie eine besonders konsequente Manifestation anarchistischer Ideologie vor, da es mir so vorkommt, als würde die Konfrontation mit den Ordnungskräften um der Konfrontation willen überbetont, ohne dass eine echte Infragestellung der autoritären Ordnung stattfindet. Dieser Eindruck könnte allerdings auch daran liegen, dass wir nicht so leicht an ihre Texte kommen…
ANA: Zum Abschluss des Interviews, wenn du auf dein bisheriges Engagement zurückblickst, was waren deine größten anarchistischen Freuden?
Octavio Alberola: Meine größte Freude war es zu sehen, dass all die Anstrengungen und Opfer, die zwischen 1962 und 1967 von den jungen Libertären (#Spanier, #Franzosen, #Italiener, #Engländer, die in Spanien, aber auch in Frankreich, #Italien und #England unterdrückt wurden) unternommen wurden, um den anarchistischen revolutionären Aktivismus wiederzubeleben, nicht umsonst waren... Und zwar, weil sie entscheidend zu den Ereignissen vom Mai 1968 in Frankreich und anderen Ländern beigetragen haben, die von der anarchistischen Idee geprägt waren, alle Formen von Macht und #Dogmatismus in Frage zu stellen. Diese Infragestellung scheint mir ein wichtiger Beitrag zu dem hartnäckigen Streben nach einer egalitären und libertären Utopie zu sein, das die Menschheit seit Beginn der menschlichen Geschichte als ihr Ziel verfolgt, seitdem das Gehorchen und Befehlen die treibende Kraft der Menschheitsgeschichte geworden ist.
Joselito, 27. Juli via @freedomnews freedomnews..org.uk
Übersetzung, Bearbeitung und Korrektur: Thomas Trueten
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